Ganz einfach

Ein moralphilosophisches Argument, warum wir Flüchtlingen helfen müssen

Berlin, März 2016

   Die leider immer noch anhaltende Diskussion über die Aufnahme von Flüchtlingen und die zunehmenden fremdenfeindlichen Kommentare und Beiträge in sozialen Netzwerken sowie die ansteigende Gewalt gegen Fremde und Andersgläubige in Deutschland und Europa veranlassen mich dazu, nun auch einmal das Wort zu ergreifen. Der Mangel an Einsicht und das enorme Ausmaß an Oberflächlichkeit und das damit einhergehende Verschwinden an Menschlichkeit empfinde ich als erschreckend und empörend und machen mich wütend und traurig. Da es aber noch nie eine gute Idee war mit Zorn auf Zorn und Angst zu reagieren, möchte ich mit Argumenten dagegen antreten und aufzeigen, dass es zu unserer moralischen Pflicht gehört, Flüchtlingen und anderen, die in Not geratenen sind, zu helfen. Die Lage scheint mir nämlich die zu sein, dass eine Diskussion darüber, ob und wie vielen geholfen werden muss, eigentlich gar nicht existieren dürfte, da die Antwort ganz klar und deutlich auf der Hand liegt. Hier also mein Argument:

   Da es sich um ein moralphilosophisches Argument handelt, muss verständlich sein, dass Moral Handlungen beurteilt und uns angibt, was wir zu tun und zu lassen haben. Moral hat also mit Handlungen zu tun. Es macht keinen Sinn zu sagen, es war vom Vesuv moralisch nicht richtig, im Jahre 79 auszubrechen und tausende Menschen zu töten. Wir betrachten dieses Ereignis (und andere vergleichbare) zu Recht als ein Übel, doch lässt es sich moralisch nicht beurteilen, denn Vulkane handeln nicht. Moralisch beurteilen können wir nur Handlungen. Jedoch hat Moral nicht mit beliebigen Handlungen zu tun. Die Rede von »moralisch richtig« und »moralisch nicht richtig« findet nur dort sinnvollerweise Anwendung, wo wir es mit freiwilligem und verantwortbarem Handeln zu tun haben. Moralische Prädikate wie »moralisch richtig« und »moralisch nicht richtig« lassen sich nur sinnvoll verwenden, wenn sie auf richtigen Verantwortungszuschreibungen basieren, wobei wiederum die Zuschreibung von Verantwortung semantisch Freiheit voraussetzt.[1] Und Freiheit impliziert ihrerseits die Möglichkeit, unter Alternativen mit Gründen wählen und daher auch für die Wahl Rechenschaft ablegen zu können.[2] So sind Menschen nur moralisch verantwortlich für Handlungen (hier sei anzumerken, dass »nicht handeln« ebenfalls eine Handlung ist), bei denen sie eine Wahl haben oder ihnen die Möglichkeit gegeben ist, in einer Situation korrigierend einzugreifen.[3] Sie sind also nicht moralisch verantwortlich für den Vulkanausbruch oder andere Naturkatastrophen, Unglücke oder Schicksalsschläge. Moralisch verantwortlich werden sie erst dann, wenn Naturkatastrophen etc. oder deren Folgen hätten verhindert werden können. Wenn die Menschen für einen erhöhten CO2– und Methan-Ausstoß verantwortlich sind und dieser zu einem globalen Klimawandel führt, der vermehrte Naturkatastrophen mit sich bringt, dann sind wir Menschen mindestens sekundär dafür verantwortlich, wenn aufgrund von Naturkatastrophen Menschen ums Leben kommen. Aber wir können auch für unverantwortete Naturkatastrophen etc. moralisch zur Verantwortung gezogen werden, wenn es nämlich um die Folgen geht und diese gemindert oder verhindert hätten werden können.[4] Wenn ein Tsunami-Frühwarnsystem Alarm schlägt, aber die entsprechende Behörde diesen Alarm ignoriert oder nicht ernst genug nimmt, so dass die von der Flutwelle bedrohte Region zu spät evakuiert wird, dann trägt diese Behörde die Verantwortung für den Tod vieler Menschen, die hätten gerettet werden können, wenn man entsprechend rechtzeitig reagiert und evakuiert hätte.

   Veränderbare Zustände sind also relevant für moralische Urteile, so dass wir von jemandem, der die Freiheit hatte, unter alternativen Handlungsmöglichkeiten mit Gründen wählen zu können, Rechenschaft einfordern können. Dies ist die Grundlage für unseren Verantwortungsbegriff und den damit zusammenhängenden Begriffen der Schuld und Unschuld. Wenn eine Behörde zu spät mit entsprechenden Maßnahmen auf das Tsunami-Frühwarnsystem reagierte, dann fordern wir eine Rechtfertigung, warum erst so spät reagiert wurde – wir verlangen Gründe, die das Handeln verständlich machen und/oder es entschuldigen. Gibt es keine vernünftigen Gründe, die das Handeln der Behörde entschuldigt – gib es also keine vernünftigen Gründe, die die Behörde von der Verantwortung für den Tod vieler Menschen befreit –, so war ihr Handeln moralisch nicht richtig und es ist moralisch zu verurteilen. Man könnte daher sagen, dass jeder ein „Recht auf Rechtfertigung“[5] hat, wenn es um moralische Gründe geht, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen. Wir können also ein Prinzip aufstellen, das ich das Prinzip der Rechtfertigung nennen möchte, und wie folgt lautet: Jeder, der die Freiheit hat, unter alternativen Handlungsmöglichkeiten mit Gründen wählen zu können, muss für seine Wahl entsprechend Rechenschaft ablegen.

   Unser Handeln gegenüber Flüchtlingen ist also ebenfalls rechtfertigungsbedürftig, denn wir haben zunächst einmal die Möglichkeit zwischen zwei Alternativen zu wählen: 1. Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen zu helfen und 2. Flüchtlinge nicht aufzunehmen uns sie ihrem Leid zu überlassen (was in vielen Fällen einem Todesurteil gleichkommt).

   Nun kann man sein Handeln auf unterschiedlichste Weise begründen. Aber nicht jeder genannte Grund hat eine moralische Relevanz. Wenn der Verantwortliche in der Behörde als Grund anführt, er habe erst so spät auf das Tsunami-Frühwarnsystem reagiert, weil er erst noch ein Posting bei Facebook zu Ende schreiben wollte, dann ist das zwar ein Grund für seine späte Reaktion auf das Frühwarnsystem, jedoch kein moralisch relevanter Grund, der ihn von der Verantwortung für den Tod vieler Menschen entbindet. Der genannte Grund wäre ein Grund im Sinne einer Erklärung, nicht aber im Sinne einer Rechtfertigung.[6] Wir fragen nicht nach persönlichen Gründen, die einfach Erklärungen für ein Handeln sind, sondern wir fragen nach allgemeinen Gründen, die das Handeln für jeden in einer ähnlichen Situation rechtfertigen würden.

   Wenn wir für unser Handeln argumentieren, es rechtfertigen, dann geschieht dies immer auf der Grundlage von allgemeinen Prinzipien.[7] Eine vernünftige Rechtfertigung ist daher ihrer Definition her etwas, das sich verallgemeinern lässt.[8] Was man für sich selbst in Anspruch nimmt, kann also auch jeder beliebige andere für sich in Anspruch nehmen, ausgenommen man kann ganz bestimmte Gründe angeben, die man vernünftigerweise akzeptieren muss und die aufzeigen, warum die Rechtfertigung in dem einen Fall anwendbar ist und in einem anderen Fall nicht – und diese Gründe müssen wiederum selbst allgemeine sein.[9] Seine Rechtfertigung darauf zu beschränken, dass man behauptet, man sei eben der, der man ist und deshalb eine Ausnahme bilde, reicht nicht aus, denn dies könnte wiederum jeder für sich beanspruchen, was dazu führen würde, dass jeder eine Ausnahme bilde, und das ist ein Widerspruch in sich.[10]

   Ob ein Grund eine Handlung moralisch rechtfertigt oder nicht, hängt von den Umständen ab und zwar von jenen, die mit Bezug auf den Akteur von Bedeutung sind – von dessen Fähigkeiten, seinen Anlagen etc.[11] So ist es normalerweise für einen Feuerwehrmann durchaus richtig, sich in ein brennendes Haus zu begeben, um die sich noch darin befindenden Menschen zu retten, wohingegen es für die meisten von uns oder gar einen ganz offensichtlich Inkompetenten keineswegs richtig ist, sich selbst einer solchen Gefahr auszusetzen. Wer einem Rollstuhlfahrer vorwirft, er hätte doch das Kind, das sich im ersten Stockwerk des brennenden Hauses befand, retten müssen, versteht offensichtlich nicht, welche Umstände relevant sind für ein moralisches Urteil.[12]

   Für eine vernünftige Rechtfertigung ist also Gleichheit konstitutiv. Was in einem Fall ein Grund ist, ist zugleich ein Grund in allen (hinreichend) gleichen Fällen – oder es ist gar kein Grund.[13] Dabei bestimmen die jeweiligen Umstände, welche Bedingungen gleich sein müssen, um für das moralische Urteilen relevant zu sein. Ein relevanter oder wichtiger Grund ist daher ein Grund, „der als vernünftiger Grund für eine unterschiedliche Behandlung gelten kann“[14]. Es findet hier das Prinzip der Gleichheit seine Anwendung und ich möchte es folgendermaßen formulieren: Was für den einen richtig (oder nicht richtig) ist, muss auch für jeden anderen richtig (oder nicht richtig) sein, der in relevanter Weise gleiche Eigenschaften hat und sich in einer in relevanter Weise gleichen Situation befindet.[15]

   Betrachten wir ein Beispiel, das Stefan Gosepath in Gleiche Gerechtigkeit anführt und bei dem ein Sklave von seinem Herrn eine Rechtfertigung für deren Standesunterschied einfordert.

   „Ein Herr kann einem Sklaven gegenüber sehr wohl Gründe liefern. Bei ungleichen Machtverhältnissen mag ein Sklave de facto auch Grund haben, sie zu akzeptieren – es könnte für ihn günstiger sein. Aber er kann fragen, warum der Herr eine höhere Stelle beanspruchen darf. Damit fragt er nach positionsunabhängigen Gründen[[16]] für die Institution der Sklaverei. Der Herr hat hier drei Möglichkeiten. Er kann und wird wahrscheinlich die Frage als Unverschämtheit zurückweisen. Warum solle er, der Herr, ihm, dem Sklaven, eine positionsunabhängige Rechtfertigung geben? Die könne der Sklave nicht verlangen, er, der Herr, schulde sie ihm nicht, weil er eben kein Gleicher sei, denn nur denen schulde man eine Rechtfertigung.“[17]

   Nun müsste aber der Herr einen Grund dafür anführen, warum er und sein Sklave keine Gleichen sind. Er müsste zeigen, dass es eine Klasse von Menschen gibt, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit dieser Klasse bestimmte Eigenschaften haben, die es erlauben, sie zu versklaven, das heißt, ihnen ihre Freiheit und Selbstbestimmung abzusprechen.[18] Doch dann müsste diese Klasse von Menschen genau durch diese Eigenschaften definiert sein und es würde nicht genügen, sie durch willkürliche Kennzeichnungen wie »Dunkelhäutiger«, »Eingeborener« oder »Wilder« festzulegen.[19] Der Herr müsste zeigen, dass jemand, weil er Dunkelhäutiger ist oder bestimmte Eigenschaften hat, die man normalerweise Dunkelhäutigen zuschreibt, keinen Anspruch auf Freiheit und Selbstbestimmung hat und daher versklavt werden darf.[20] Dies lässt sich aber nicht vernünftig begründen. Wir haben heute gute Gründe, die dafür sprechen, dass in Bezug auf Freiheit und Selbstbestimmung (und andere Menschenrechte) alle Menschen gleich sind. Insofern wäre der Herr dem Sklaven durchaus eine Rechtfertigung schuldig. Der Sklave kann also die erste Möglichkeit des Herrn

   „[…] als falsch zurückweisen. Moral verlangt allgemeine willkürfreie Rechtfertigung. Hierauf kann der Herr entweder mit Verweis auf die bloße Macht reagieren, das aber ist reiner Zwang, kein Grund. Der Sklave würde es nicht freiwillig akzeptieren, sondern nur gezwungenermaßen.“[21]

   Reiner Zwang ist ein Zwang, der selbst keinen Grund im Sinne des Prinzips der Gleichheit anführt. Die Macht des Herrn, seinen Sklaven unterdrücken zu können, ist kein moralischer Grund für diese Leidzufügung. Zuletzt bliebe dem Herrn noch die Möglichkeit,

   „[…] religiöse oder traditionalistische Auffassungen über den unterschiedlichen Wert von Menschen je nach Abstammung, Geschlecht oder ähnlichem [zu] nennen. Für den Übergang zur modernen Moral ist nun charakteristisch, dass wir diese und ähnliche Gründe nicht mehr akzeptieren. Wir bezweifeln, dass sich eine apriorische Wertunterscheidung zwischen (Kategorien von) Personen unparteiisch begründen lässt. Alle Auffassungen, die glauben, solche primären Wertunterscheidungen begründen zu können, sind an Voraussetzungen gebunden, die man vernünftigerweise bestreiten kann. Im postmetaphysischen Zeitalter ist die Art der zulässigen Gründe eine andere.“[22]

   Die hier geforderte unparteiische Begründung ist genau das, was auch das Prinzip der Gleichheit fordert. Wenn religiöse oder traditionalistische Auffassungen Wertunterscheidungen zwischen Personen oder Personengruppen machen, dann muss die Rechtfertigung für diese Unterscheidung allgemeine relevante Gründe aufzeigen, um moralische Geltung zu haben. Bei der Haltung von Sklaven darauf zu verweisen, dass es seit jeher Tradition ist, Dunkelhäutige ihrer Freiheit und Selbstbestimmung zu berauben, genügt nicht, um die Sklavenhaltung zu rechtfertigen, denn die Farbe der Haut (oder die Herkunft, das Geschlecht, die Religion, der Grad der Intelligenz etc.) spielt keine relevante Rolle bei der Entscheidung, ob jemand frei und selbstbestimmt leben darf oder nicht.[23] Es gibt keinen allgemeinen Grund, den wir vernünftiger Weise annehmen könnten, der im Bezug auf Freiheit und Selbstbestimmung Unterschiede aufmacht, um der einen Gruppe Freiheit und Selbstbestimmung zu gewähren, einer anderen Gruppe aber nicht. Die relevante gleiche Eigenschaft in Bezug auf Freiheit und Selbstbestimmung ist das Menschsein.

   Aber was soll das genau heißen: Menschsein? Ist das die signifikante Eigenschaft, die allen Menschen gleichermaßen zukommt? Ist es nicht trivial zu sagen, dass alle Menschen sich darin gleichen, dass sie Menschen sind? Als faktische Grundlage für das Prinzip der Gleichheit das Menschsein heranzuführen, muss unbefriedigend bleiben, wenn nicht gezeigt wird, dass mit dem Menschsein mindestens eine weitere Eigenschaft verbunden ist, die den entscheidenden – und damit den tatsächlich relevanten – Ausschlag gibt. Doch was könnte das für eine Eigenschaft sein, in der wir alle gleich sind?

   Peter Singers Vorschlag auf die Frage, worin alle Menschen gleich sind, lautet, dass

„der Anspruch auf Gleichheit nicht auf dem Besitz von Intelligenz, moralischer Persönlichkeit, Rationalität oder ähnlichen Tatsachen beruht. Es gibt keinen logisch zwingenden Grund für die Annahme, daß ein Unterschied in den Fähigkeiten zweier Menschen einen Unterschied in dem Maß der Beachtung rechtfertigt, die wir ihren Interessen schenken.“[24]

   Singer spricht vom Prinzip der gleichen Interessenabwägung, dass wir „Interessen einfach als Interessen abwägen“ müssen und „nicht als meine Interessen oder die Interessen“[25] anderer. Das Wesentliche dieses Prinzips bestehe darin, dass „wir in unseren moralischen Überlegungen den ähnlichen Interessen all derer, die von unseren Handlungen betroffen sind, gleiches Gewicht geben“[26]. Er sagt weiter, dass das Prinzip darauf hinauslaufe, dass Interesse Interesse ist, gleichgültig wessen Interesse es auch sein mag.[27] Das Prinzip verbiete es, die Interessen anderer von ihren Fähigkeiten oder anderer Eigenschaften abhängig zu machen, denn entscheidend sei, dass sie Interessen haben.[28] Die Berücksichtigung von Interessen, welcher Art auch immer sie sein mögen, muss auf jeden Menschen angewendet werden – unabhängig von uneinsichtigen Auffassungen über die menschliche Natur.[29] „Das Prinzip der gleichen Interessenabwägung kann also eine vertretbare Form des Prinzips sein, daß alle Menschen gleich sind […].“[30]

   Wer behauptet, Flüchtlingen müsse (oder gar dürfe) nicht geholfen werden, der muss allgemeingültige Gründe dafür anführen können. Er muss rechtfertigen, warum jemandem, der vor Krieg und Elend flieht, weil er als Mensch ein Interesse hat ein friedliches und nicht lebensbedrohliches Leben zu führen, nicht geholfen werden muss (oder gar darf). Das Anführen einer anderen Religion ist keine relevante Eigenschaft, die eine Ausnahme rechtfertigt (genauso wenig wie die Hautfarbe, Herkunft, das Geschlecht, der Grad an Intelligenz etc.). Vielmehr ist gerade die bereits genannte Eigenschaft, ein Mensch mit dem Interesse an einem friedlichen und nicht lebensbedrohlichen Leben, der entscheidende Grund, warum wir helfen müssen. Denn wir alle haben als Mensch eben dieses Interesse. Und würden wir vor Krieg und Elend fliehen, in der Hoffnung, so ein friedvolles Leben an einem anderen Ort führen zu können (selbst wenn dies bedeuten würde, seine Heimat, seine Freunde, sogar die Familie verlassen und alles Hab und Gut aufgeben zu müssen und sich auf eine lebensgefährliche Reise mit ungewissem Ausgang zu begeben), und würden uns dann nicht geholfen werden mit der Begründung, wir hätten die falsche Religion oder seien zu viele oder die Hilfe wäre zu teuer (wobei wir in eine der reichsten Länder der Welt reisen würden), dann wären wir empört, schockiert, fassungs- und sprachlos, entsetzt, wütend, traurig und was weiß ich was noch. Wenn es aber zwischen uns und den anderen keinen relevanten Unterschied diesbezüglich gibt – und es wurde bisher in der Flüchtlings-Diskussion keiner genannt, da es keinen gibt –, dann haben wir auch keine Rechtfertigung, Flüchtlingen nicht zu helfen.

   Aber warum sind wir deswegen bereits zur Hilfe moralisch verpflichtet? Peter Singer schreibt in seinem Buch Praktische Ethik:

   „Der Weg von der Bibliothek meiner Universität zum Hörsaalgebäude der Geisteswissenschaften führt an einem flachen Zierteich vorbei. Angenommen, ich bemerke auf meinem Weg zur Vorlesung, daß ein kleines Kind hineingefallen ist und Gefahr läuft zu ertrinken. Würde irgendwer bestreiten, daß ich hineinwaten und das Kind herausziehen sollte? Dies würde zwar bedeuten, daß ich mir die Kleidung beschmutze und meine Vorlesung entweder absagen oder verschieben muß, bis ich etwas Trockenes zum Anziehen finde; aber verglichen mit dem vermeidbaren Tod eines Kindes wäre das unbedeutend.“[31]

   Und Singer sagt weiter:

   „Ein plausibles Prinzip zur Stützung des Urteils, daß ich das Kind retten sollte, lautet folgendermaßen: Wenn es in unserer Macht steht, etwas Schreckliches zu verhindern, ohne daß dabei etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung geopfert wird, dann sollten wir es tun.“[32]

   Wenden wir zunächst einmal das Prinzip der Rechtfertigung auf Singers Prinzip an. Dann ist damit zunächst nur gesagt: »Wenn wir die Freiheit haben, unter alternativen Handlungsmöglichkeiten jene Möglichkeit mit Gründen zu wählen, die etwas Schreckliches verhindert, müssen wir für unsere Wahl entsprechend Rechenschaft ablegen.« Das heißt wiederum, dass wenn wir die Wahl hatten, etwas Schreckliches zu verhindern, es aber nicht verhindern, weil wir uns für eine andere Handlungsalternative entschieden haben, dann müssen wir gute Gründe angeben können, die unser Handeln rechtfertigen.

   Wenn also jemand sich rechtfertigt, er sei nicht in den See[33] gesprungen, um das Kind zu retten, weil er selbst nicht schwimmen könne, sich also selbst in Lebensgefahr begeben hätte ohne dem Kind dadurch eine tatsächliche Hilfe zu sein, dann wäre das eine gute Rechtfertigung. Denn selbst nicht schwimmen zu können ist ein allgemein guter Grund, einem Ertrinkenden nicht ins Wasser zu folgen. Es kommt hier das Prinzip der Gleichheit zur Geltung.

   Gehen wir aber einmal davon aus, dass die gefragte Person tatsächlich schwimmen kann. Würde sie das Kind dennoch nicht retten mit der Begründung, die Kleidung würde dann nass und beschmutzt werden, so wären wir empört. Wir wären empört über die angeführten Gründe, weil auch hier das Prinzip der Gleichheit und das Prinzip der Rechtfertigung Geltung hat. Die Sorge, die eigene Kleidung zu durchnässen und zu beschmutzen, mag eine Erklärung für die unterlassene Hilfe sein, aber sie rechtfertigen dieses Handeln nicht, da nasse und beschmutzte Kleidung (oder das Ausfallenlassen oder Verschieben einer Vorlesung) keinen relevanten Grund darstellt, ein Kind – oder einen beliebigen anderen Menschen – ertrinken zu lassen. Jemanden ertrinken zu lassen ist ganz offensichtlich etwas Schreckliches und bedarf einer guten Begründung. Die Formulierung »ohne dass dabei etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung geopfert wird« spielt genau darauf an. Die eigene Kleidung hat keine vergleichbare moralische Bedeutung, als dass man sie als Rechtfertigung heranziehen könnte. Das eigene Leben zu riskieren, weil man selbst nicht schwimmen kann, hat allerdings vergleichbare moralische Bedeutung und würde daher als Rechtfertigung gelten (wobei man dann natürlich auf andere Weise helfen müsste; einfach am See vorbeigehen und so tun, als wäre nichts gewesen, ließe sich überhaupt nicht rechtfertigen). Man könnte dies das Prinzip der Hilfe nennen: Jeder, der ein Leid (oder etwas Schreckliches oder Übel) verhindern kann, ohne dabei selbst ein vergleichbares Leid (oder etwas Schreckliches oder Übel) zu erfahren, muss es verhindern.

   Aber dieses Prinzip lässt sich einem anderem Prinzip, das weiter gefasst ist, unterordnen. Denn es ist nicht nur so, dass wir nur drohendes Leid (oder Übel) verhindern müssen, wenn es uns möglich ist, diese zu verhindern, sondern wir sind prinzipiell angehalten, Leid (oder Übel) nicht zuzulassen. Es ist das Prinzip des unnötige Leides, das besagt: Es ist niemals richtig, unnötiges Leid zuzulassen oder zu verursachen.

   Würden wir also das Kind ertrinken lassen, würden wir dieses Leid zulassen. In einem gewissen Sinne könnten wir auch sagen, dass wir dieses Leid verursachen, denn unser Nicht-retten ließe sich als die Ursache dafür verstehen, dass das Kind ertrinkt. Und die Betonung von unnötigem Leid meint, dass wir mindestens zwei Handlungsalternativen zur Wahl hatten – eine, bei der das Kind ertrinkt; eine, bei der wir das Kind retten. Da die erstere Leid zulässt, wir aber keinen vernünftigen Grund nennen können, warum dieses Leid zuzulassen sein sollte, ist dieses Leid ein unnötiges Leid, weshalb wir die zweite Handlungsalternative – nämlich die leidverhindernde – wählen sollten.

   Mit den Flüchtlingen verhält es sich nun genauso wie mit dem ertrinkenden Kind. Wir haben die Mittel und wir können den Flüchtlingen helfen und sind deshalb dazu verpflichtet – so wie derjenige, der schwimmen kann dazu verpflichtet ist, das Kind zu retten, ganz gleichgültig, ob die eigene Kleidung nass oder dreckig wird. Wir müssen dabei nicht einmal ansatzweise ein vergleichbares Übel aufnehmen. Keine entstehenden Kosten, keine möglichen kulturellen Spannungen, kein (angeblicher) Anstieg der Kriminalität, kein Platzmangel, kein Verzicht auf irgendein kommerzielles (Luxus-)Gut hat auch nur im Ansatz eine vergleichbare moralische Bedeutung in Anbetracht von Tod, Kriegsleiden, Hunger, Krankheit, die akute Angst ums Überleben und den unvorstellbaren Gefahren, die Menschen auf sich genommen haben, um in einer besseren Welt zu leben. Selbst wenn wir die edelsten Kleider und den teuersten Schmuck trügen und bei dem Versuch, das ertrinkende Kind zu retten, alles ruinierten, und selbst wenn wir dadurch das wichtigste Geschäftsgespräch unseres Lebens verpassten, wir müssten dem Kind helfen, wenn wir schwimmen könnten. Und wir können schwimmen! Wir haben daher die moralische Pflicht, Flüchtlingen zu helfen (und angesichts der vielen anderen großen Übel auf der Welt sind wir noch zu weitaus mehr verpflichtet).

   Es ist also ganz einfach. Weil wir helfen können, müssen wir helfen. Und wir haben wirklich gar keine gute Rechtfertigung, um uns dieser Verantwortung zu entziehen. Dass die Umsetzung Schwierigkeiten bereitet – sogar große Schwierigkeiten –, dass vieles sicherlich nicht so läuft, wie es das sollte und dass wir noch einige Probleme zu bewältigen haben, ist gar keine Frage. Aber auch das ändert nichts daran, dass wir es bewältigen müssen – und können. Sollte uns, sollte Deutschland und sollte Europa diese Einsicht fehlen und sollten wir deshalb an der Aufgabe zu helfen scheitern – und ich sage es noch einmal: wir können hervorragend schwimmen! –, dann haben wir unsere Menschlichkeit verloren, die wir uns doch immer wieder auf die Fahne schreiben und für die wir uns angeblich so oft auf der Welt einsetzen. Also lasst uns unsere Angst vor Fremden, unsere Angst vor dem Anderen, unseren Neid und unsere Habsucht, unsere Gier und unseren Zorn endlich ablegen und lasst uns das sein, was wir alle gleichermaßen sind: Menschen.


[1] Vgl. Gosepath, Stefan, Gleiche Gerechtigkeit – Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 54-55.

[2] Vgl. Gosepath, Gerechtigkeit, S. 55.

[3] Vgl. Gosepath, Gerechtigkeit, S. 55-56.

[4] Vgl. Gosepath, Gerechtigkeit, S. 56.

[5] Gosepath, Gerechtigkeit, S. 148.

[6] Vgl. Singer, Marcus George, Verallgemeinerung in der Ethik – Zur Logik moralischen Argumentierens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 48.

[7] Vgl. Singer, M., Ethik, S. 43.

[8] Vgl. Singer, M., Ethik, S. 43.

[9] Vgl. Singer, M., Ethik, S. 43.

[10] Vgl. Singer, M., Ethik, S. 43-44.

[11] Vgl. Singer, M., Ethik, S. 35.

[12] Vgl. Singer, M., Ethik, S. 36.

[13] Vgl. Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, Vol. 7, London: Maximillan & Co Ltd. 1962, S. 384-385.

[14] Sidgwick, Ethics, S. 380. „which can be stated as a reasonable ground for difference of treatment“, übersetzt nach der 7. Auflage von Constantin Bauer, Henry Sidgwick, Die Methoden der Ethik, Leipzig: Werner Klinkhardt 1909, S. 171.

[15] Vgl, Singer, M., Ethik, S. 41.

[16] Ein positionsunabhängiger Grund ist ein Grund, der das Handeln nicht nur für einen, sondern für jeden rechtfertigt, der in relevanter Weise gleiche Eigenschaften hat und sich in einer in relevanter Weise gleichen Situation befindet. Also sind positionsunabhängige Gründe allgemeine Gründe im Sinne des Prinzips der Gleichheit.

[17] Gosepath, Gerechtigkeit, S. 149-150.

[18] Vgl. Singer, M., Ethik, S. 49.

[19] Vgl. Singer, M., Ethik, S. 49.

[20] Vgl. Singer, M., Ethik, S. 49.

[21] Gosepath, Gerechtigkeit, S. 150.

[22] Gosepaht, Gerechtigkeit, S. 150.

[23] Vgl. Singer, Peter, Praktische Ethik, Stuttgart: Reclam 1993, S. 37-38.

[24] Singer, P., Ethik, S. 39.

[25] Singer, P., Ethik, S. 39.

[26] Singer, P., Ethik, S. 39.

[27] Vgl. Singer, P., Ethik, S. 39.

[28] Vgl. Singer, P., Ethik, S. 41.

[29] Vgl. Singer, P., Ethik, S. 41.

[30] Singer, P., Ethik, S. 42.

[31] Singer, P., Ethik, S. 292.

[32] Singer, P., Ethik, S. 292.

[33] Wir wollen zur besseren Veranschaulichung nicht mehr von einem flachen Zierteich, sondern von einem tiefen See sprechen.